Nikolaus Lenau



                   An einem Grabe


                   Kühl herbstlicher Abend, es weht der Wind,
                   Am Grabe der Mutter weint das Kind,
                   Die Freunde, Verwandten umdrängen dicht
                   Den Prediger, der so rührend spricht.
                   Er gedenkt, wie fromm die Tote war,
                   Wie freundlich und liebvoll immerdar,
                   Und wie sie das Kind so treu und wach
                   Stets hielt am Herzen; wie schwer dies brach.
                   Daß grausam es ist, in solcher Stund
                   Die Toten zu loben, ist ihm nicht kund;
                   Der eifrige Priester nicht ahnt und fühlt,
                   Wie er im Herzen des Kindes wühlt.
                   Es regnet, immer dichter, herab,
                   Als weinte der Himmel mit aufs Grab,
                   Doch stört es nicht den Leichensermon,
                   Auch schleicht kein Hörer sich still davon.
                   Die Tote hört der Rede Laut
                   So wenig, als wie der Regen taut,
                   So wenig als das Rauschen des Winds,
                   Als die Klagen ihres verwaisten Kinds.
                   Der Priester am Grabe doch meint es gut,
                   Er predigt dem Volk mit Kraft und Glut,
                   Verwehender Staub dem Staube,
                   Daß er ans Verwehen nicht glaube.


    __________________________________________________________________________________________


                   К списку авторов     К списку произведений